Volker Surmann, seines Zeichens Lesebühnenautor bei den Weddinger Brauseboys, aber auch Lektor meines Buches, hat einen sehr schönen Text über unsere Zusammenarbeit geschrieben, den er gestern bei meiner Book-Release vorgelesen hat...Hier ist er nochmal: Sebastian
Oder: Ein Buch ist nur der Korken auf der Flasche seiner Entstehung
Eine Geschichte
I.
Seit ein paar Wochen lektoriere ich Sebastians Buch. Gelegentlich treffen wir uns auf einen Kaffee. Das heißt: Ich trinke einen Kaffee und Sebastian trinkt einen Ingwertee mit Honig. Er wird immer wunderlicher. In all den Monaten, die wir an dem Buch gearbeitet haben, habe ich Sebastian nie ein Beck’s Green Lemon trinken sehen. Ich glaub, er mag das Zeug gar nicht.
„Hallo Sebastian“, sage ich zur Begrüßung.
„Hallo Sebastian“, sagt Sebastian.
„Ich heiße nicht Sebastian“, sage ich.
„Das ist deine Sicht der Dinge“, sagt Sebastian. „Alle Leute, die ich kenne, heißen Sebastian. Also heißt du auch Sebastian.“
„Das wird aber irgendwann unübersichtlich“, sage ich.
„Ich finde das total übersichtlich“, sagt Sebastian. „Wenn alle Sebastian heißen, kann man niemanden mehr falsch anreden. Also, was wolltest du mir sagen? Ich bin gerade aufgestanden. Du hast also zehn Minuten, bis ich wieder müde werde.“
„Du schreibst nach wörtlicher Rede so oft ‚sagt er’“, sage ich.
„Das stimmt gar nicht“, sagt Sebastian.
„Und wie das stimmt!“ sage ich.
„Manchmal sage ich auch ‚gebe ich zu bedenken’“, gibt Sebastian zu bedenken.
„Aber zwei Begleitverben zur wörtlichen Rede sind etwas wenig“, gebe ich zu bedenken.
„Das ist deine Sicht der Dinge“, ruft Sebastian. „Und manchmal ‚rufe’ ich ja auch.“
„Aber es gibt so viele schöne Verben!“, gebe ich zu bedenken: „Erzählen, erwidern, erwähnen, entgegnen, fragen, antworten, berichten, bemerken, anbringen, einwerfen, sprechen, murmeln, munkeln, nuscheln, brummen, bölken, seufzen.“
„Die finde ich alle nicht schön“, sagt Sebastian und gibt zu bedenken: „Das ist wie mit Eis. Da mag ich auch nur Vanille und Schoko. Sagen und Rufen sind für mich das Vanille und Schoko der deutschen Sprache. Und wenn ich drei Verben kenne, sind das doch schon zwei Verben mehr, als ich Vornamen kenne.“
Erschöpft von diesem langen Monolog muss sich Sebastian erst einmal ein bisschen hinlegen. Das sieht komisch aus, denn wir sind ja immer noch im Café.
„Man kann das Begleitwerb in Dialogen auch einfach mal weglassen.“
„Kann man?“
„Ja.“
„In den letzten Zeilen fehlte jetzt aber irgendwas“, sagt Sebastian.
„Da fehlte aber nichts!“, rufe ich.
„Sprache macht mich immer so müde“, sagt Sebastian und schläft ein.
II.
„Hallo Sebastian“, sage ich ins Telefon.
„Hallo Sebastian“ sagt Sebastian.
„Ich bin nicht Sebastian, sondern Volker“ sage ich.
„Ich kenne keinen Volker“, sagt Sebastian. „Was ist denn das überhaupt für ein Name?“
„Ein in den 70ern populärer Vorname“, gebe ich zu bedenken.
„Das war vor meiner Zeit“, sagt Sebastian. „Dann wirst du ja schon bald Ende dreißig.“
„Können wir bitte das Thema wechseln?“, rufe ich.
„Ich könnte dich Sebastian nennen“, sagt Sebastian. „Dann fühlst du dich 10 Jahre jünger.“
„Ich dachte, Ende zwanzig ist genauso schlimm“, gebe ich zu bedenken.
„Können wir bitte das Thema wechseln?“, ruft Sebastian. „Wer sind Sie überhaupt, dass Sie hier anrufen und mit mir über Ihr Alter diskutieren wollen!“
„Ich bin dein Lektor, Sebastian“, sage ich, „Und ich hab da noch ne Anmerkung zu der Navi-Geschichte. Du fährst mit dem Auto Oma besuchen. Und dann sagst Du: ‚Omas Adresse hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr verändert’ und tippst ins Navi ‚Friedhof’ ein.“
„Ja“, sagt Sebastian. „Und?“
„Nun, du bist Ende zwanzig ...“
„Erwähn das doch nicht immer“, sagt Sebastian.
„Wer hat denn damit angefangen?“, gebe ich zu bedenken.
„Das tut nichts zur Sache“, ruft Sebastian.
„Okay, zur Sache“, sage ich: „Also, du bist Ende zwanzig ...“
„Schon wieder“, ruft Sebastian.
„Du bist 1982 geboren, deine Oma ist vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestorben, also in den frühen 40er Jahren. Vorher muss Sie deinen Vater oder deine Mutter zur Welt gebracht haben und ist dann kurz nach der Geburt verstorben. Das heißt: Deine Eltern müssten heute so um die siebzig sein. Stimmt das?“
„Ja“, sagt Sebastian traurig. „Meine Eltern sind sehr, sehr alte Menschen.“
„Wir könnten einfach ‚Zweiter Weltkrieg’ durch ein späteres Ereignis ersetzen“, sage ich.
„Aber das ist immer ein Lacher!“, sagt Sebastian.
„Opportunist“, rufe ich.
„Totschlagargument“, sagt Sebastian.
„Und wieso hast du eigentlich so eine emotionale Bindung zu deiner Oma, obwohl sie 40 Jahre vor deiner Geburt gestorben ist?“, sage ich.
„Ich bin eben ein sehr sensibler Junge“, sagt Sebastian und wird mit einem Mal ganz traurig.
Eine einzelne Träne kullert ihm die Wange runter und versickert im Dreitagebart.
„Und das, wo noch nicht mal deine Eltern deine Oma richtig kennen gelernt haben, da sie ja kurz nach ihrer Geburt starb“, gebe ich zu bedenken.
„Ist das nicht unglaublich traurig?“, sagt Sebastian und muss ein bisschen weinen. Er sieht erschöpft aus.
„Ich sehe erschöpft aus“, sagt Sebastian.
„Außerdem enden Liegezeiten auf deutschen Friedhöfen nach spätestens 30 Jahren“, gebe ich zu bedenken.
„Logik macht mich immer so müde“, sagt Sebastian. „Ich würde jetzt gerne auch 30 Jahre liegen.“
„Aber dann bist du schon Ende fünfzig“, sage ich, aber Sebastian ist schon eingeschlafen.
III.
Das nächste Mal treffen wir uns wieder im Café. Sebastian trinkt einen Ingwertee mit Honig. Ich frage ihn nach der Sache mit den Treueherzen.
„Treueherzen?“, sagt Sebastian.
„Ja, die Kassiererin, in die sich dein Freund Sebastian verliebt hat, fragt ihn, ob er Treueherzen sammelt. Dabei arbeitet sie im EDEKA!“, gebe ich zu bedenken.
„Ja, ist das nicht romantisch?“, ruft Sebastian. „Sie bietet ihm im Edeka Kaisers-Treueherzen an!“
Sebastian ist so gerührt, dass er schon wieder ein bisschen weinen muss. Seit ich Sebastian kenne, bin ich beeindruckt, wie viele Tränen in so einen kleinen Jungen passen. Bei der Gelegenheit fällt mir auf, dass Sebastian, wenn man mit ihm im Café sitzt, nie aufs Klo muss, obwohl er literweise Ingwertee mit Honig in sich reinkippt. Dafür weint er andauernd. Zusammenhänge sind denkbar.
„Im Text kommt das aber anders rüber“, gebe ich zu bedenken.
„Dichterische Freiheit“, sagt Sebastian.
„Totschlagargument“, sage ich.
„Das ist deine Sicht der Dinge,“ sagt Sebastian, trinkt noch einen Schluck Ingwertee mit Honig und schläft augenblicklich ein.
IV.
„Ich hätte gerne ein weißes Cover“, sagt Sebastian, „Ich hab da schon mal was vorbereitet“.
Sebastian greift in seinen Stoffbeutel.
Kurzer Exkurs zur Bedeutung des Stoffbeutels bei Indie-Jungs: Ich habe mich schon oft gefragt, was Indie-Jungs eigentlich so in ihren Stoffbeuteln haben. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, einfach mal hineinzuschauen, ist ein Sakrileg, wie bei Frauen und ihren Handtaschen. Da hat eine kluge Frau mal gesagt, dass sie eher mit einem Mann schläft, als dass sie ihn in ihre Handtasche schauen lässt. Das sei einfach zu intim. Ich glaube, so ähnlich ist es mit Stoffbeuteln bei Indie-Jungs: Ich würde mit ihnen auch viel lieber schlafen, als in ihre Stoffbeutel zu gucken. Oft schon habe ich in Clubs gestanden und mich gefragt, wieso junge Männer nachts um drei einen Stoffbeutel mit auf die Tanzfläche nehmen. Eine Zeitlang vermutete ich, dass sie immer Haargel und Fön mit sich rumschleppen, um zwischen Oasis und Franz Ferdinand mal schnell die Frisur wieder zurechtzufönen. Exkurs Ende.
Sebastian holt aus seinem Stoffbeutel ein weißes Blatt Papier raus. Es ist leer.
„Also so stell ich mir das Cover vor“, sagt er. „So ein bisschen Copyshopästhetik. Und da unten machen wir dann irgendwas mit Bier hin.“
Er zeigt auf eine Art Fleck am Rand des Papiers. Ich hatte es für ein paar Knicke im Papier gehalten, von Sebastians Fön im Stoffbeutel. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Fleck als vager Umriss einer Bierflasche.
„Und dann stelle ich mir vor, dass wir da ne ganze schlichte Schrift nehmen“, sagt Sebastian „Arial, Schriftgröße 10. Und dann steht da irgendwo nur ‚Sebastian. Ein Buch’.“
„Und die Schriftfarbe auch weiß?“, gebe ich zu bedenken.
„Nein, dann könnte man sie ja nicht mehr lesen“, sagt Sebastian. „Ich dachte mehr so an ein ganz helles Grau.“
„Aha“, sage ich leise. Weiße Cover machen mich immer so traurig. Ich muss ein bisschen weinen.
„Moment mal“, sagt Sebastian. „Das ist meine Rolle.“
„Das ist deine Sicht der Dinge“, sage ich und schlafe ein.
V.
Ich laufe zum Verlag. Als ich in die Kreuzberger Graefestraße einbiege, laufe ich an einen Jungen dran. Er hat dunkle Haare und einen Stoffbeutel. Es ist der böse Junge vorm Verlag. Ich springe in ein Gebüsch. Doch er hat mich schon gesehen.
„Ich hab da noch ne neue Idee zum Cover“, sagt er.
„Nein!“, rufe ich. „Du hast schon siebenzwanzig Cover abgelehnt!“
„Ich habe mir gedacht, man könnte doch das ganze Buch im Copyshop kopieren und dann zusammentackern. Das hat so etwas Ursprüngliches, etwas voll Kreatives und Innovatives“, sagt der Junge.
Ich will aus dem Gebüsch fliehen, aber da steht auch schon ein weiterer Junge mit Stoffbeutel. Alle wedeln mit Coverentwürfen. Alle sagen etwas, einige rufen etwas, andere geben etwas zu bedenken. Ich verstehe nichts, weil sie alle durcheinanderreden.
Ich will wegrennen, aber sie umzingeln mich und beginnen, mit ihren Stoffbeuteln auf mich einzuschlagen. Es tut verdammt weh, weil in jedem Stoffbeutel ein Fön ist.
VI.
Ich wache auf.
„’tschuldigung, bin kurz weggenickt“, sage ich zu Sebastian.
„Du solltest nicht immer so deutlich machen, wo Traumsequenzen anfangen und aufhören“, sagt Sebastian.
Erst jetzt sehe ich, dass vor ihm der ganze Tisch voll ist mit leeren Tassen mit ausgekochten Ingwerstückchen. Einige sind mit Staub überzogen. Sebastians Bart ist grau geworden. Er sieht aus, als würde er bald Ende siebzig.
„Du Sebastian“, sagt Sebastian. „Ich muss dir was sagen.“
„Ich bin nicht Sebastian“, sage ich.
„Ich bin auch nicht Sebastian“, sagt Sebastian. „In Wahrheit bin ich nämlich Gott.“
Irgendwie läuft das hier gerade aus dem Ruder, denke ich.
„Wenn du Gott bist, dann bin ich Gottes Lektor“, sage ich und muss ein bisschen lachen.
„Kann es sein, dass ich immer noch träume?“, sage ich.
„Du solltest nicht immer so deutlich machen, wo Traumsequenzen anfangen und aufhören“, sagt Sebastian.
Irgendwo habe ich diesen Satz schon mal gehört, denke ich, bevor ich wieder einschlafe.
Im Traum begegne ich Sebastian.
Sebastian sagt: „Kann es sein, dass deine Geschichte irgendwie kein Ende findest?“
„Ja“, sage ich. „So ist das mit mir. Ich komme nie zum Ende. Aber eigentlich will ich nur noch zu meinem Schlussbild kommen.“
„Und wie sieht das aus?“, will Sebastian wissen.
„Ein Indie-Junge mit Stoffbeutel wird umlagert von ganz vielen Menschen, dann öffnet er den Stoffbeutel und darin sind ganz viele Bücher, und alle wollen eins haben.“
„Kitschige Verlegerfantasie“, sagt Sebastian.
„Man wird ja noch träumen dürfen“, sage ich.
„Das ist auch meine Sicht der Dinge“, sagt Sebastian. Dann schlafen wir beide ein.