15. Dezember 2010

Die Zukunft

Am Montag haben wir bei der Lesedüne unseren langjährigen lieben Freund und Mitstreiter Kolja R. in den fast verdienten, aber selbstgewählten Ruhestand verabschiedet. Es war ein schöner, bewegender, aber auch überaus trauriger Abend. Trotzdem steckt in jedem Ende auch eine Zukunft oder wie das heißt. Über diese Zukunft haben wir auch in einigen Texten spekuliert. Hier könnt ihr meinen Beitrag nachlesen:


Die Lesedüne in 50 Jahren – eine realistische Zukunftsvision

Ich liege in meinem gemütlichen Bett in meiner großen Altbauwohnung in Neukölln. Neukölln ist jetzt im Jahr 2060 wie Charlottenburg vor 50 Jahren. Die Hipster gehen heutzutage nur noch im Zehlendorf-Kiez weg, dort feiern sie große 2020er Jahre Partys in abbruchreifen Villen.

Nach dem Großen Krieg vor 15 Jahren zwischen den Cyberwesen und den Humanisten ist Neukölln der einzige Stadtteil in Berlin, der halbwegs sicher ist. Halb Deutschland wurde im Großen Krieg verwüstet, in dem die Cyberwesen unter Führung des dritten Heidi Klum Klons Heidi III gegen die Humanisten unter ihren großen Führern den geklonten Rüdiger Safranski IV und Peter Sloterdijk VI, den ewigen ZDF-Moderatoren des „Philosophen Quartetts“, gekämpft haben. Im Friedensvertrag von Kassel-Wilhelmshöhe wurde Deutschland geteilt: Im Osten herrschen die Humanisten, die seit Safranski IV und Sloterdijk IV von Sarrazin V brutal von der Macht verdrängt wurden, einen christlichen Gottesstaat errichtet haben. Seitdem befinden sich die ursprünglichen Humanisten im Bürgerkrieg mit den christlichen Spaltern. Neukölln ist dank der vielen islamischen Humanisten das Zentrum des Widerstands gegen die Fundamentalisten geworden. Vom Westen Deutschlands, wo immer noch Heidi III ein brutales Regime führt, dringen schon lange keine Nachrichten mehr zu uns durch.

Aber ich verlasse ohnehin kaum noch mein Haus. Einmal am Tag kommt meine Haushälterin Kevin vorbei und wir haben etwas Cyber-Sex. Sie ist in den 2030ern geboren, da war es gerade voll in, Mädchen Jungennamen zu geben. Heute werde ich aber seit dreißig Jahren mal wieder Kreuzberger Boden betreten, denn die Lesedüne feiert ihr 55 Jähriges Bestehen im Monarch und alle ehemaligen Mitglieder wurden eingeladen.
Am Tag davor hatte ich folgendes Einladeschreiben in meinem Briefkasten gefunden:

"Die Lesedüne wird seit 49 Jahren von Kolja Reichert geleitet. Zusammen mit seinen Klonen Kolja IIKolja III und Kolja V liest Kolja jeden zweiten und vierten Montag lustige Geschichten im Monarch vor. Kolja IV ist leider vor ein paar Jahren ausgestiegen, um sich seiner journalistischen Karriere zu widmen. Nachdem die Lesedüne im Jahre 2011 ein Jahr lang ohne Kolja mehr oder weniger völlig zu Grunde gegangen ist und Marc-Uwe Kling die terroristische Untergrundorganisation Känguru-Geheimbund (KGB) gegründet hatte, übernahm Kolja die Düne 2012 wieder und baute sie zu einer Massenveranstaltung aus. Unter dem neuen Namen „Koljadüne“ fand sie zuerst eine neue Heimat im Springerhochhaus an der Axel-Springer-Straße, aber nachdem dieses von Marc-Uwe Kling und dem KGB im Jahre 2014 in die Luft gejagt wurde, fand die „Koljadüne“ ab 2015 in der O2-Arena statt. Nachdem Marc-Uwe Kling aber 2016 auch die O2-Arena in die Luft gesprengt hatte, wandte sich Kolja wieder von seinem Massenkonzept der „Koljadüne“ ab. Er zog zurück in den Monarch, benannte die „Koljadüne“ wieder in Lesedüne um und widmete sich fortan der Untergrundliteratur und dem Poetry Slam.
Einen weiterer Rückschlag musste die Lesedüne 2020 erleiden, als Maik Martschinkowsky, der zwischenzeitlich einen kleinen Teeladen namens Y-Tee in Friedrichshain gegründet hatte, endgültig aus der Lesedüne ausschied, um sich ganz der Expansion seines Tee-Imperiums zu widmen. Denn sein Teeladen entwickelte sich immer besser, in ganz Deutschland eröffnete er Filialen. Der Verkaufsschlager war sein kalter Schwarztee, dessen Rezeptur niemand kannte. Gerüchten zufolge soll ein wichtiger Bestandteil Kokain sein. Unter dem Namen Coca Y-Tee entwickelte sich seine Unternehmen zu einen Global Player im Food&Drink-Bereich. Die Coca Y-Tee-Werke in Friedrichshain zählen noch heute zu den größten Arbeitgebern in Ost-Deutschland. Maik ist aber schon lange nach Amerika ausgewandert und wurde dort Gouverneur von Kalifornien. Im Jahre 2027 wurde er aber leider von einem geistig umnachteten Globalisierungskritiker auf offener Straße erschossen.
Im Jahre 2025 schied dann das letzte Gründungsmitglied der Lesedüne, Sebastian Lehmann, endgültig aus. Nachdem er seine 3489ste Folge in der Reihe Meine Jugendkulturen geschrieben hatte, „Wie ich einmal sehr müde war“, fiel er in einen mehrjährigen tiefen Schlaf, aus dem er erst im Jahre 2031 wieder erwachte und seitdem zurückgezogen als Privatlehrer im Dauerschlafen in Berlin-Neukölln lebt.
Was aus Marc-Uwe Kling geworden ist, ist weiterhin unklar. Nachdem er die O2 Arena in die Luft gesprengt hatte, wurde es lange ruhig um den KGB. Erst im Großen Krieg trat er wieder in Erscheinung und kämpfte erst an der Seite der Humanisten, verfolgte aber bald radikalere Ziele und errichtete einen anarchistischen Künstlerstaat im oberschwäbischen Dschungel. Nach einigen Jahren übergab Marc-Uw aber die Herrschaft in seinem Künstlerstaat einem Verrückten in einem Känguru-Kostüm. Seitdem gilt Marc-Uwe Kling als verschollen. Die Welt geht davon aus, dass er schon längst tot ist.
Nun feiert die Lesedüne 50 Jahre Lesedüne und alle ehemaligen Mitglieder werden erwartet.
Mit freundlichen Grüßen,
ihr Kolja, Kolja II, Kolja III und Kolja V"

Freudig verlasse ich also mein Haus um nach so vielen Jahren endlich wieder zu Lesedüne zu gehen. Als ich das Kottbusser Tor erreiche, werde ich sofort von Heckenschützen der radikal-christlichen Sarrazin-V-Anhängern erschossen und bin sofort tot.
Nun ist Kolja Reichert das letzte lebende Mitglied der Lesedüne. 

Keine Kommentare: